Vor mir sitzt an einer großen Geburtstagstafel ein junger Mann, neben ihm sein zweijähriger Sohn. Der alleinerziehende Vater ist offensichtlich stolz und glücklich mit seinem Jungen.
Obwohl wir uns nur kurz kennen, führen wir tiefgehende Gespräche.
Als das Essen kommt wird es plötzlich stressig. Der Vater versucht zum wiederholten Male den Kleinen davon zu überzeugen das Messer nicht in den Mund zu stecken. Es ist ein Plastikmesser und nicht wirklich scharf, aber dennoch könnte er sich damit verletzten.
Der Junge hat eine außergewöhnliche Ausdauer, dass Messer immer und immer wieder abzulecken und tief in den Mund zu stecken. Mit jedem Mal ihn davon abzuhalten, wird der Vater ungeduldiger und lauter, schließlich will er in Ruhe sein Essen genießen.
In der Dynamik der Situation beobachte ich, wie der Vater während der Mahlzeit sein eigenes Messer zum zweiten Mal ableckt. In dieser Routine ist erlebbar, dass es zu seiner Gewohnheit gehört das Messer während des Essens so zu „säubern“.
Verschmitzt sage ich zu dem Vater: „Er (ich schaue kurz zu dem Jungen) hat es nicht gesehen.“ Etwas verdutzt fragt mich der Vater was ich meinen würde. Mit einer kleinen Geste erkläre ich ihm, dass er genau das machen würde, was er versucht seinem Sohn abzugewöhnen.
Wir unterschätzen was wirkt
Der junge Mann hatte diese Gewohnheit nicht realisiert.
Ein wiederkehrendes Phänomen: Eltern wünschen sich beispielsweise, dass die Kinder nicht schon am Frühstückstisch am Smartphone spielen; gleichzeitig können sie für sich gut rechtfertigen, dass sie selbst schon Morgens auf das Gerät schauen müssen, wenn ich sie nach ihrem eigenen Verhalten frage.
Alles was wir Erwachsenen bewusst oder unbewusst tun oder unterlassen vor den Augen der Kinder, hat für Vorbildfunktion. Jungen und Mädchen adaptieren und entwickeln – vor allem in den ersten sieben Lebensjahren - entscheidende Lebensmuster und Gewohnheiten.
Alles hat Bedeutung, wie wir als Mutter oder Vater, Oma oder Opa, Kindergärtnerin oder Onkel in Anwesenheit von Kindern reagieren; egal ob freudig positiv oder mit Aggressionen. Kinder merken sich ob ich ungern raus gehe oder gute Leistung mit Süßem belohnt wird.
Sorgsam achtsam - die Herausforderungen im Erwachsenenalter
Gerade das Thema „Belohnung mit Süßigkeiten“ ist mir selbst sehr vertraut. Noch vertrauter ist mir die Herausforderung, solche tiefsitzenden Gewohnheiten im Alter wieder los zu werden... Fast jeder kennt das Beispiel. Andere Muster sind nicht so offensichtlich.
In der Reflexion einer familiären Konfliktsituation erkannte mit Erstaunen eine Klientin die zur Beratung kam: „Obwohl ich nie so werden wollte wie meine Mutter, habe ich mich unbewusst in den wiederkehrenden Konflikten mit meinem Mann und meinen Kindern genau so verhalten wie meine Mutter früher... – wie krass ist das denn?“
Wir sind Modelllerner. Kinder spüren, hören und nehmen auf – in ihre Erlebniswelt – mit ihren Interpretationen. Kinder können nur entsprechend Ihres Alters und ihrer Ressourcen deuten und entsprechende „Lösungsstrategien“ entwickeln.
Spontan erinnere mich an eine Situation auf einem Parkplatz vor einigen Jahren, als eine Familie aus dem Einkaufszentrum zu ihrem Auto kam. Sie hatten sich alle ein Eis geholt und offensichtlich „schnell“ das Auto auf einem Behindertenparkplatz gestellt.
Als der Vater unter dem Scheibenwischer ein „Knöllchen“ hervorzieht, fängt er an über die „scheiß Polizei “ zu schimpfen - laut, erregt... vor seinen zwei Kindern, die mit ca. drei und fünf Jahren erlebten: andere (in dem Fall die Polizei) sind Schuld, dass sein Vater während eines schönen Familienausflugs „austickt“ und er zum „Opfer“ wird.
Authentisch sein - Vorbild sein - Werte vermitteln.
Genau in der Zeit, in der Muster für unser späteres Leben gegründet werden - können wir als Kind noch nicht differenzieren und als Dreijähriger sagen: „Moment mal Papa – du hast falsch geparkt - auch wenn es nur 10 Minuten waren. Darum hast du einen Strafzettel bekommen. Die Polizei sorgt für Recht - in dem Fall für Schwerbehinderte.
Von einem Kind in dem Alter können wir keine Reflexionsfähigkeit erwarten – aber als Erwachsene können wir die Dinge bewusst und ehrlich anschauen. Dabei geht es nicht um Schuldzuweisung, Verurteilung oder Kritik, sondern um die Chance alte Verhaltensweisen zu entlarven und „Zirkularitäten“ zu durchbrechen.
Wieso konnte der Vater nicht einfach sagen: „Oh ja, da habe ich einen Fehler gemacht. Tatsächlich habe ich nicht gedacht, dass die Polizei mich erwischen wird. Man darf nicht auf einem Behindertenparkplatz parken – auch nicht für 10 Minuten – was lernen wir daraus: ...“
Meine Vermutung: Der Vater hat früher von Autoritätspersonen nicht vorgelebt bekommen, Fehler einzugestehen, ehrlich und authentisch zu sein und das Beste daraus zu machen. Offensichtlich war seine Lernerfahrung, die Opferrolle einzunehmen und jemanden anderen verantwortlich zu machen – um beispielsweise den Wert: „sein Gesicht nicht zu verlieren“ aufrecht zu erhalten...
Fürs Leben lernen wir – doch was?
Welchen „Kurzschluss“ oder welches langfristige Muster ein Kind aus bestimmten, eindrücklichen Erlebnissen für sein Leben zieht, ist so individuell wie der persönliche Fingerabdruck.
Im Coaching und in der Supervision ist es daher für mich wichtig, erst einmal unvoreingenommen, wertfrei und würdigend (es gibt immer einen Grund warum ich so handle wie ich handle) anzuschauen, warum Muster sich entwickelt haben. Gerade in stressigen Situationen geht es um ursprüngliche Werte und Muster die sichtbar werden.
Wenn ich als Vater am Esstisch wiederholt brülle – was lernt mein Kind daraus?
Wenn ich als Mutter gesunde Grenzen des Kindes ignoriere und manipuliere - was kann sich daraus für ein Verhalten bei meinem Kind entwickeln?
Wenn ich Abfall im Auto wochenlang liegen lasse – was wird damit meinem Kind für sein Leben als Wert mitgegeben?
Und passen meine Reaktionen zu meinen eigentlichen Werten die ich vertrete wie z.B. Sorgsamkeit, Werterhaltung, Nachhaltigkeit, Achtsamkeit für das was mir anvertraut wurde...?
Mutig als Vorbild voran
Wir sind nicht perfekt – aber wir sind Vorbilder in unseren unterschiedlichen Rollen als Vater, Oma, Erzieher oder als Führungskraft.
Haben Sie den Mut sich selbst einmal anzuschauen – ihr Verhalten aus ihrer Rolle heraus? Haben Sie den Mut Doppelbotschaften oder Doppelmoral zu entlarven und eigene Muster aufzudecken – ich garantiere: es ist sehr befreiend!