Schuld, Scham & Peinlichkeit

Aufbruch zu neuen Ufern
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt
 

Während ich mit einer Spezialpumpe beschäftigt bin unter Hochdruck Luft in mein neues Sportgerät zu pumpen, schaue ich direkt auf die Müritz. Langsam formt sich das gefaltete Stück Kunststoff zu einem Stand Up Paddling Board.

Unser Apartement ist gerade 30 m vom Ufer entfernt. Was für ein geniales Zuhause für die kommenden zwei Ferienwochen!

Gerüstet mit einem Neoprenanzug trage ich stolz und etwas aufgeregt mein Sportgerät zu Wasser. Unsicher und wacklig stehe ich nach wenigen Minuten und paddele eifrig im ruhigen Gewässer.

Für mich mit fast 55 Jahren ist die Erprobung eines solchen Trendsports ein echtes Wagnis. Schaffe ich das mit meinen „alten“ Knochen und aktuell mit untrainierten Muskeln?

Nach 45 Minuten Vollkonzentration bin ich völlig erschlagen – durch den ungewohnten Ballanceakt ist Muskelkater vorprogrammiert.

 

Wasser: Symbol der Emotionen, Lebenskraft und Erneuerung

Jeden Tag gehe ich aufs Wasser. Mittlerweile brauche ich auch keine Schutzkleidung mehr, die Wassertemperatur ist auf 16° C gestiegen und die Außenluft hat sich von 14 °C auf über 30 °C gesteigert. Mit jedem Tag wächst die Sicherheit und ich genieße diese besonderen Erfahrungen über das Wasser zu gleiten.

Als Kind und Jugendliche war ich Leistungsschwimmerin. Wasser war schon immer mein Element. Es hat für mich Symbolkraft und ich habe so manches Abenteuer durch Wasser erlebt, beispielsweise beim Canuing ein 8 m Sprung in die Tiefe einer Schlucht.

 

Schuld, Scham und Peinlichkeit – ungeliebte Antreiber

Unsere Ferienwohnung gehört zu einem großen Apartementhaus mit rund 50 Wohnungen. Alle haben Balkon und damit Seeblick. Während ich mich mit meinem SUP-Board auf dem Wasser erprobe, sind Beobachter unvermeidbar.

Wie auf einer Bühne gleite ich im Blickfeld meiner „Zuschauer“ über das Wasser. Bereits im Laufe der ersten Tage habe schon nettes Feedback bekommen zu meinem Hobby; dennoch ertappe mich leise in meinen Gedanken, bloß nicht ins Wasser zu fallen.

Tatsächlich gebe ich mir alle Mühe, mich nicht durch einem Sturz zum Gespött zu machen… Doch wie komme ich zu diesem Gefühl einer potenziellen Blamage, obwohl ich die Menschen auf den Tribühnenplätzen überhaupt nicht kenne?

Schuld, Scham und Peinlichkeit kennt jeder Mensch, in unterschiedlichen Ausprägungen. Obwohl diese Themen in der Kindheit ihren Ursprung haben, ist die Dimension als treibende Kraft für unser Leben als Erwachsene nicht zu unterschätzen.

Ein Schlüsselerlebnis, beispielsweise als Fünfjährige bei einem Theaterstück den Text vergessen zu haben und deshalb ausgelacht worden zu sein, kann daher in bestimmten ähnlichen Situationen – selbst 50 Jahre später – unangenehme Gefühle auslösen. Und wenn es auf der Wasserbühne beim Paddling ist.

Mein Selbst-Bewusstsein und die Freude auf dem Wasser überwiegen natürlich vor der Sorge einer möglichen Belustigung meiner ausdauernden Beobachter.

Aber wie viele Menschen trauen sich etwas nicht, weil sie Befürchtungen haben, sich zu blamieren?

 
Gesellschaftliche Normen prägen unsere Selbstwirksamkeit

Klassisch bekannte Phänomen bei der Thematik Schuld, Scham und Peinlichkeit sind Rückzug. Doch es gibt andere Verhaltensmustern, die nicht gleich in ihrem Ursprung erkennbar sind: Hochmut, Arroganz, Grenzüberschreitungen, Macht oder Manipulationen.

Zur Verdeutlichung ein Beispiel aus der Supervision:

Ein 30jähriger Mann kommt in die Beratung. Er wird bald Vater und hat sich vorgenommen nach der Geburt seines Kindes drei Monate Elternzeit zu nehmen. Die Reaktionen an seinem Arbeitsplatz sind für ihn schockierend. Seine Kollegen reagieren mit abwertenden Kommentaren, da klar wird, dass für die Dauer der Auszeit kein Ersatz gesucht wird.

Was ihn aber besonders verletzt, ist eine Anmerkung seines Chefs:
„Elternzeit als Mann – das ist doch nur was für Weicheier.“

Diese disqualifizierende und entwürdigende Aussage der Führungskraft stammt aus meiner Sicht aus einer familiär geprägten Schamkultur.

Als ich in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts auf die Welt kam, war es noch undenkbar, dass mein Vater den Kinderwagen geschoben hätte – so erzählte meine Mutter.

Die Führungskraft setze ihr Statement übrigens fort: „Schafft Ihre Frau das nicht allein, mit dem einen Kind fertig zu werden?“

Während in Schweden Männer als unsozial gelten, die keine Elternzeit nehmen, bedeutet die besondere Arbeitsauszeit in Deutschland immer noch eine Herausforderung. Studien belegen, dass in Deutschland Männer sogar als asozial von Kollegen beschimpft werden, die Elternzeit in Anspruch nehmen.

 

Perspektivenwechsel erlebenswert

Es ist der letzte Abend unseres Urlaubs und ich gehe noch einmal aufs Wasser.
Es ist still und wunderbar die Müritz in der untergehenden Sonne zu erleben.
Ich bewege mich sanft über das Wasser – ohne Scham und im totalen Frieden.

Einen Moment lang habe ich das Gefühl über dem Wasser zu schweben.
Oder eher, wie Petrus über das Wasser zu gehen – schwerelos!

Ich habe SUP – StandUpPaddling lieben gelernt.
Und ich liebe meine Arbeit SUP – die auch passende Abkürzung für Supervision und Support.

Jedes auf seine Art ein besonderes Abendteuer – mit Tiefgang.